Eine Utopie von Handwerk, Kunst und Leben
Eine wichtige Station im Leben und Schaffen von Siegfried Prütz war sein Aufenthalt in der Freiland-Siedlung Gildenhall am Ruppiner See. Prütz begründete die Handwerkerschaft mit und lebte dort bis zu ihrem Ende 1929. Die von den Architekten Max Eckardt und Adolf Meyer entworfene Reihenhaussiedlung, heute ein fast versteckt liegender Teil Neuruppins, war in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein alternatives Wirtschafts- und Lebensprojekt, ein Versuch engagierter Handwerker, angesichts zunehmend industrialisierter Produktionsprozesse ihr privates und gesellschaftliches Leben, ihr Arbeiten und Wirtschaften in Einklang zu bringen. Sie entstand als Mustersiedlung: die Häuser wurden als Ganzes in Gildenhall von Gildenhallern gebaut. Prinzipien des Staatlichen Bauhauses und des Deutschen Werkbundes flossen in die gemeinsamen Aufgaben ein.
Arbeit und Leben
Gründer und Namensgeber von Gildenhall war der Berliner Zimmer- und Baumeister Georg Heyer. Er erwarb im Juni 1920 Land an der Südseite des Ruppiner Sees, auf dem er ein Sägewerk, eine Zimmerei, eine Bautischlerei und ein Wohnhaus für seine Familie errichtete. Land und Sägewerk waren die Basis, auf der er seine Idee von Siedeln und Arbeiten verwirklichen wollte. Durch gemeinsame Planung und Ausführung von Bauwerken sollte die Möglichkeit geschaffen werden, handwerkliche und werkkünstlerische Disziplinen zu einem einheitlichen Gesamtwerk mit einer harmonischen Gestaltung der Umwelt zusammenfließen zu lassen.
So kamen die unterschiedlichsten Handwerkskünstler in Gildenhall zusammen: Der Bildhauer Hans Lehmann-Borges, die Weberin Else Mögelin, der Keramiker Richard Mutz, der Drechsler Eberhard Schrammen u.a. Siegfried Prütz eröffnete 1923 zunächst eine Eisenschmiede in Gildenhall, 1926 dann eine Kunstschmiede für Gebrauchs- und Architekturstücke. Er fertigte Gitter, Tore, Beleuchtungskörper, Kamingerät, Firmenzeichen und auch Grabschmuck.
Gildenhaller Formen
Der für die
industrielle Produktion charakteristischen Zerteilung von
Arbeitsprozessen in kleine, voneinander unabhängige Schritte wollte
man in Gildenhall entgegenwirken. Das Ausprobieren und Suchen nach
Lösungen galt den Gildenhallern nicht als Zeitverschwendung, sondern
als
schöpferische
Tätigkeit, in der Entwurf und Ausführung eine
Einheit bildeten. Leitbild dabei war das ästhetische Ideal, "sich
seine eigene Formgebung, der Zeit und ihren Menschen gemäß"
(Walter Eggestein) zu schaffen. Dies jedoch im vollen Bewusstsein
ökonomischer Notwendigkeiten. Hinter dem Ansatz, qualitativ
hochwertige Produkte herzustellen, stand die Überzeugung, dass die
Langlebigkeit solcher Erzeugnisse sie letztlich gegen die vorgeblich
billigeren, industriell erzeugten Waren konkurrenzfähig machte.
Hohe Arbeitsleistung und unendliches Vergnügen
Über das gemeinsame Arbeiten hinaus war Gildenhall aber vor allem auch Lebensgemeinschaft individueller Persönlichkeiten. Else Eisenkolb-Großmann, Ehefrau des Theaterplastikers Harry Großmann, beschrieb es in einem Brief so:
"Mit der gleichen Leidenschaft stürzten wir uns in die berufliche Arbeit, kritisierten einander ernst und liebevoll, betrachteten wir doch die Gildenhaller Werkstätten als ein Ganzes. Worüber diskutierten wir nächtelang bei sehr viel sorgfältig gebrühtem Tee? Selbstverständlich über Politik, Religion, Ernährungsweise - kamen aber immer wieder zurück auf Gestaltung und Material (...), auf Einteilung von Fläche und Raum. Es gab wohl nichts über Himmel und Erde, worüber wir uns nicht erhitzt und worüber wir nicht gelacht hatten ... Es ist unvorstellbar, woher wir in den wenigen Jahren, die Gildenhall bestand, die Zeit für Ausbau der Siedlung, der Werkstätten und der Gemeinschaft genommen haben, für hohe Arbeitsleistung und unendliches Vergnügen. Wir haben sehr intensiv gelebt." (zitiert nach Lisa Riedel: Gildenhall. Handwerk - Kunst - Leben. Edition Rieger 2010)
Gildenhall und Neuruppin
Diese vollkommen "andere" Lebensweise wurde im politisch völkisch-national dominierten Neuruppin natürlich mit äußerster Skepsis betrachtet. Doch durch die zahlreichen Bautätigkeiten fanden auch viele Ruppiner Handwerker und Stellenlose Arbeit. Und die Gildenhaller engagierten sich in handwerklich-wirtschaftlichen Kreisen, in der Volkshochschule oder im Laientheater. Durch gemeinsame Ausstellungen, Theaterinszenierungen und mehr belebten sie das kulturelle Leben der Stadt. Somit wurden, über die Befriedigung materieller Bedürfnisse hinaus, auch kulturelle Werte geschaffen.
Das Ende von Gildenhall
Die Freiland-Siedlung Gildenhall scheiterte letztlich an den wirtschaftlichen Verhältnissen und wurde wie viele andere Opfer der Weltwirtschaftskrise. 1927 schieden die ersten Mitglieder aus der Genossenschaft aus, 1929 wurde die Siedlung Gildenhall in die Stadtgemeinde Neuruppin eingegliedert. Im Februar 1933 wurde die Genossenschaft durch die beiden letzten verbliebenen Mitglieder Schirren und Lehmann-Borges liquidiert. Die Utopie von Handwerk, Kunst und Leben ist - für die Freiland-Siedlung Gildenhall - vorbei. Aber für alle, die heute die Verbindung von Arbeit und Leben, von Kunst und Wirtschaften suchen, ist die Geschichte von Gildenhall ein Vorbild. Denn sie ist die Geschichte von Menschen, die es wagten, in ihrer Zeit ein lebenswertes, sinnerfülltes Miteinander in kleinem Rahmen zu verwirklichen.